von Julia Kant, Artikel zuerst erschienen in:
Magazin Lichtfokus 4/2008
Bereits als ich zum ersten Mal die Hsin Tao Übungen ausführte, wusste ich, dass ich auf etwas sehr Kostbares gestoßen war. Mich faszinierten die natürliche Eleganz und Schönheit dieser Bewegungen, die Freude, die sich beim Praktizieren einstellte, und das tiefe Gefühl von Integrität und Frieden auf allen Ebenen des Seins. Nach Beendigung der Übungen fühlte sich mein Körper durchwärmt, energetisiert, neu ausgerichtet und von innen heraus gestärkt an. In den darauf folgenden Monaten entwickelte sich bei mir ein vollkommen neues Körpergefühl: Ich war physisch und geistig viel präsenter, meine Haltung und mein Gang hatten sich korrigiert, Rückenschmerzen verschwanden, und es war, als würde sich mein Körper in Seide verwandeln.
Genuss und Leichtigkeit
Was ich an Hsin Tao besonders schätze, ist der Umstand, dass es sich um einen Weg direkter Erfahrung handelt. Ohne konzeptionelle Vorgaben können Menschen auf tiefe Weise mit sich und dem Göttlichen in Kontakt kommen. In der Vorstellung Vieler sind spirituelle Praktiken mit großer Disziplin und Entsagung verbunden. Auf Hsin Tao trifft das allerdings überhaupt nicht zu; hier stehen Anstrengungslosigkeit, Genuss und Leichtigkeit im Vordergrund. Es gibt keine Notwendigkeit, mit Strenge gegen sich und seine Natur zu arbeiten, wie das bei manchen anderen Praktiken geschieht. Ganz im Gegenteil: Die besten Resultate werden sogar dann erzielt, wenn man mit einer gewissen „laisser faire“-Haltung an das Üben heran geht, wenn man sich erlaubt, faul zu sein. „Fühlen und nicht machen“ ist das Credo der Hsin Tao Praxis. Es bedarf keiner äußeren Perfektion, um die Wirkung dieser heiligen Bewegungen zu erfahren. Im Hsin Tao ist man nicht daran interessiert, ein „workout“ zu absolvieren, vielmehr lässt sich der Übende auf eine innere Reise ein, um unterschiedliche physiologische und energetische Empfindungen zu erforschen. Die fließenden, harmonischen Bewegungsabläufe werden auf natürliche Weise mit dem Atem verbunden und durch ständige Wiederholung vertieft. Das Wunderbare ist, dass es keinerlei Leistungsdruck gibt – man arbeitet immer unterhalb dessen, was man zu leisten fähig ist. Auf diese Weise stellt sich relativ schnell eine „Flow“-Erfahrung ein, bei der Bewegung und Atmung fast wie von selbst „geschehen“, so als würde der Körper von einer Welle oder einem Strom aus Energie getragen werden, und das einzige, worum man sich zu kümmern hat, ist weiter loszulassen und sich dieser größeren Kraft hinzugeben.
Nicht selten finden sich Praktizierende während des Übens in einem Zustand von Geistesstille, Glückseligkeit und exstatischem Bewusstsein. Eine solche Erfahrung wird u. a. durch die Aktivierung höherer Gehirnzentren wie den Stirnlappen und dem Septum Pellucidum* ermöglicht. Tastsächlich hat sich Hsin Tao als sehr effektiv darin erwiesen, die neurologische Aktivität des Gehirns zu harmonisieren. Normalerweise überschattet die Überaktivität des so genannten Reptiliengehirns, das tief im limbischen System lokalisiert ist, die meisten Aspekte des menschlichen Seins. Das Reptiliengehirn befindet sich auf dem gleichen Entwicklungsstand wie die Gehirne von Schlangen und anderen Reptilien, und zu seinen Aufgaben gehört es, die primitiven Funktionen unseres Körpers, wie Selbstverteidigungs– und Angriffsmechanismen zu steuern. Seine “Philosophie” ist 100 % Wettbewerb. Mit einer Dominanz dieser Gehirnregion verwandelt sich das Leben in einen Überlebenskampf, der nicht nur unsere alltäglichen Aktivitäten negativ beeinflusst, sondern auch unsere spirituellen Bemühungen blockieren und sogar gänzlich sabotieren kann. Eine Aktivierung der Stirnlappen und des Septum Pellucidum hingegen erzeugt in uns Gefühle von Harmonie, Einheit und Frieden. Oft erscheint der Graben zwischen dem Status Quo unseres täglichen Lebens und dem angestrebten Zustand von Anstrengungslosigkeit und der Qualität des „Einfach Seins“ unüberbrückbar; und es hat sich gezeigt, dass viele spirituelle Techniken keine wirkliche Lösung für dieses Problem bieten, weil sie selbst mit den Mechanismen der „niederen“ Gehirnfunktionen arbeiten. Sobald versucht wird, mit mentaler oder körperlicher Anstrengung ein spirituelles Ziel zu erreichen, ist man dabei, den „Teufel mit dem Belzebub auszutreiben“.
* = durchscheinende Trennwand, eine aus Gliazellen bestehende anatomische Struktur (Septum) innerhalb des Gehirns. Sie liegt in der Mitte des Gehirns zwischen den beiden Gehirnhälften, unterhalb des Balkens und ist membranartig zwischen Balken und Formix gespannt.
Herkunft und Legende
Mit seiner Betonung auf Natürlichkeit und Gelassenheit, dem Nicht-Tun im Tun gleicht die Philosophie des Hsin Tao den Prinzipien und Praktiken des Zen. Diese Übereinstimmung ist kein Zufall; denn sowohl die Ursprünge des Zen– bzw. Chan-Buddhismus als auch die des Hsin Tao gehen der Überlieferung nach auf den indischen Mönch Tamo zurück. Der als Bodhidharma in die Geschichte eingegangene Prinzensohn soll um 440 nach Christus im Königshaus Sughanda in Kanchipuram geboren worden sein. Als Angehöriger der Kshatriya-Kaste erhielt er eine umfangreiche Ausbildung auf dem Gebiet von Philosophie, Religion und Kampfkunst. Mit noch jungen Jahren konvertierte er zum Buddhismus und entschied sich gegen den Willen seines Vaters, Mönch zu werden. Sein Meister Prajnatara gab ihm den Auftrag, nach China zu reisen, um dort die Mahayana Lehren des Chan-Buddhismus zu verbreiten. So verließ er 480 n. Chr. Indien und begab sich auf eine abenteuerliche Reise. Vielen Widrigkeiten strotzend fuhr er mit dem Schiff nach China, überquerte dann den Himalaya in die nördlichen Provinzen und wanderte zuerst nach Südchina. Anschließend ließ er sich wieder im Norden in der Provinz Henan nieder. Hier befand sich auch das heute sagenumwobene Shaolin-Kloster. Mit seinen strikten und undiplomatischen Auslegungen der Dharmalehre hatte er sich auf seiner Reise nicht nur Freunde gemacht und sogar den König beleidigt. Sein Ruf war ihm anscheinend voraus geeilt; denn es heißt, dass ihm die Mönche des Shaolin-Klosters den Eintritt vorerst verweigerten. Der Legende nach zog er sich daraufhin in eine nahe gelegene Höhle zurück, wo er neun Jahre lang auf eine Felswand starrend meditierte. Als er sich nach neun Jahren wieder erhob, war er ein erleuchteter Buddha.
Seine körperliche Verfassung muss nach dieser extrem langen Zeit des Sitzens und Meditierens allerdings katastrophal gewesen sein. Da er in diesem schwächlichen und vergreisten Zustand nur eingeschränkt handlungsfähig und somit niemandem von Nutzen war, kreierte er dem Strom kosmischer Energien folgend ein System regenerativer Übungen, mit deren Hilfe er sich in kürzester Zeit wieder verjüngte. Als er diesmal an die Pforten des Shaolin-Klosters klopfte, waren die Mönche von dem Grad seiner Verwirklichung so beeindruckt, dass sie ihm Einlass gewährten. Den Mönchen ging es nicht anders als zuvor dem Bodhidharma: starre Meditationshaltungen, stundenlanges gekrümmtes Sitzen über den Schriften und allgemeiner Bewegungsmangel machten sie steif, gebrechlich und anfällig für Krankheiten. Dies sollte sich nun ändern, denn der Bodhidharma begann sie nicht nur in den Kampfkünsten zu unterweisen, die er bereits in seiner Jugend in Indien praktiziert hatte, sondern auch in den Bewegungen, mit denen er sich selbst auf magische Weise verjüngte und heilte. Rasch erlangten die Mönche körperliche Gesundheit und Stärke. Auch schulten die Übungen ihre geistige Präsenz und halfen die Meditation zu vertiefen. Von dieser Zeit an wurde die Technik im Shaolin-Kloster wie ein Schatz behütet und immer nur einigen auserwählten Mönchen in ihrem vollen Umfang offenbart. Einige von ihnen, so heißt es, perfektionierten sich durch das konsequente Üben dieser Methode bis zu einer Stufe, auf der sie so genannte „Siddhis“, übernatürliche Kräfte, entwickelten und die Grenzen der Sterblichkeit überwanden. Diesem Umstand verdankt dieses System innerer Alchemie auch seinen Namen; denn „Hsin Tao“ bedeutet u. a. „Der Weg der Götter“.
Viele Jahre später wurden auf Basis dieser Kerntechnik diejenigen Kampfkünste entwickelt, für die das Shaolin-Kloster heute weltweit berühmt ist, darunter Kung Fu, Schwertkampf und Tai Chi. Das Juwel des Hsin Tao jedoch blieb von diesen Weiterentwicklungen unberührt, im Geheimen praktiziert diente es zu allen Zeiten in erster Linie der Heilung und Verjüngung von Körper und Geist.
Weg in den Westen
Erst zur Zeit der Kulturrevolution, als viele Mönche aus China fliehen mussten, verließ auch Hsin Tao die klösterlichen Mauern. Die traditionelle Methode der Übertragung wurde von den wenigen Meistern, die die authentische Technik kannten, im Exil weiter gepflegt. Einige von Ihnen spürten, dass eine neue Epoche der menschlichen Entwicklung anbrach, eine Epoche, in der Geheimhaltung nicht mehr länger nötig sein würde und die Menschen die spirituellen Schätze der verschiedenen Traditionen dringend brauchen würden.
Und so kam es, dass ein in Sydney beheimateter chinesischer Großmeister names Ho Lo gegen Ende des 20. Jahrhunderts erstmals einige Westler in die Hsin Tao Technik einweihte. Unter ihnen war der Australier Ratziel Bander, der zu diesem Zeitpunkt an einem schweren Post-Polio-Syndrom litt und nach jahrelangem vergeblichen Kampf gegen diese Krankheit eigentlich schon mit dem Leben abgeschlossen hatte. Obwohl er bereits viele vermeintlich ähnliche Techniken wie Qi Gong, Tai Chi und Yoga kannte, ließ er sich auf das Angebot des Großmeisters, ihn in der Hsin Tao Technik zu unterweisen, ein. Schon nach wenigen Monaten gelang es ihm durch gewissenhaftes und dennoch sanftes Üben, die degenerativen Prozesse, die mit dem Post-Polio-Syndrom einhergehen, nicht nur aufzuhalten, sondern sogar umzukehren. Mehr als acht Jahre hatte er mit schlimmsten Schmerzen und starken Krämpfen, die ihn wochenlang ans Bett fesselten, leben müssen. Zum Schluss war er so schwach, dass er nicht einmal mehr seine eigene Zahnbürste halten konnte. All dies änderte sich nun dank Hsin Tao. Die Krämpfe wurden seltener, und die Erholungszeit nach den Krämpfen verkürzte sich dramatisch, schließlich blieben sie ganz aus. Allmählich gewann er seine Kraft zurück, auch der emotionale Aufruhr ebbte ab. Depressionen verschwanden und machten einem wachsendem Gefühl von innerem Frieden Platz. Als jemand, der in seinem Leben sehr viel meditiert hatte, war Ratziel erstaunt, wie leicht und schnell diese einfachen Hsin Tao-Bewegungen in tiefe Meditation und Kontemplation führten. Er teilte seine Erfahrungen mit dem Großmeister, der über seine Fortschritte ebenso erfreut war wie er selbst und ihm unerwartet den Auftrag gab, Hsin Tao zu lehren. Daraufhin entwickelte Ratziel eine Lehrmethode, die es dem westlichen Geist besonders leicht macht, die Technik zu assimilieren. Kurze Zeit später begann er, Hsin Tao überall auf der Welt, vor allen Dingen aber in den USA und in Europa, zu unterrichten. Seither haben viele Menschen Hsin Tao erlernt und als tägliche Übungspraxis in ihr Leben integriert.
Individuelle Resultate
Es scheint, dass Hsin Tao bei jedem Praktizierendem einen individuellen Prozess innerer Ausrichtung und Regeneration in Gang setzt. Bereits die Übungen der Basis-Stufe können fundamental positive Veränderungen im Leben der Übenden bewirken. Wichtig ist nur, dass regelmäßig praktiziert wird, und dass die zwei einzigen Fehler, die man im Hsin Tao machen kann, nämlich sich entweder körperlich oder mental zu stark anzustrengen, vermieden werden. Uns wurde von klein auf beigebracht, dass wir uns anstrengen müssen, um im Leben etwas zu erreichen. Dieses Konzept von Anstrengung ist den meisten von uns zur zweiten Natur geworden, wir haben es bis tief in die Zellebene hinein verinnerlicht, und von dort aus diktiert es die Art und Weise, wie wir das Leben erfahren. Aus diesem Zustand zellulärer Verspannung heraus erscheint sogar das Einfache schwierig, und so empfinden es anfangs viele Menschen als Herausforderung, sich beim Ausführen der Hsin Tao-Bewegungen nicht anzustrengen. Dies ist normal und Teil eines Prozesses neurologischer Wieder-Einstimmung, bei dem wir aus einem „Machen-Modus“ in einen „Geschehen-Lassen-Modus“ überwechseln und dem Körper erlauben, seine innewohnenden Regulationsmechanismen zu aktivieren.
Besonders deutlich wird das bei der grundlegenden Atemübung im Hsin Tao, welche alle Konzepte über richtiges Atmen auf den Kopf stellt. Anstatt wie gewohnt aktiv zu atmen, lernen wir, uns durch die Bewegung des Körpers passiv atmen zu lassen, ohne dabei dem Atem überhaupt Aufmerksamkeit zu schenken. Der bekannte deutsche Gesundheitsexperte und Neurophysiker Christian Opitz schreibt dazu: „Das passive Atmen verringert den Bedarf an exogenem Sauerstoff in bemerkenswertem Ausmaß. Dies kann eigentlich nur durch das Phänomen der endogenen Atmung erklärt werden […]. Endogene Atmung ist ein Grund für die Langlebigkeit und die emotionale Ausgeglichenheit der Menschen, die in hoch gelegenen Gebieten der Erde leben.“
Obwohl diese Art der Atmung natürlich ist und man sie auch bei Babies und kleinen Kindern beobachten kann, fühlt sie sich für die meisten anfangs seltsam an: „Ich muss doch atmen, wie soll ich sonst Luft bekommen?“ mag sich manch einer beim Erlernen der Technik zweifelnd fragen. Tatsächlich ist es ein bisschen so, als wenn wir dem Körper eine neue Sprache beibringen. In diesem Prozess sollte man geduldig sein und so sanft wie möglich mit sich umgehen. Hat der Körper das Prinzip einmal verinnerlicht, wird die neu gewonnene Leichtigkeit oft wie eine kleine Offenbarung empfunden. Dies ist der Punkt, an dem das Praktizieren wirklich Freude zu machen beginnt und sich die heilenden Wirkungen des Hsin Tao auf körperlicher, geistiger und seelischer Ebene entfalten können.
Mit der Zeit wird man entdecken, dass dem Loslassen und der Mühelosigkeit keine Grenzen gesetzt sind. Ebenso verhält es sich mit dem daraus resultierenden Glücksgefühl und dem Zustand geistiger Stille. Dazu kommt, dass die Übungen kumulativ wirken: Zu Beginn erfährt der Praktizierende die positiven Effekte in erster Linie während und unmittelbar nach der Übungspraxis, je kontinuierlicher er übt, desto intensiver wird er sie erleben, und desto länger werden sie anhalten. All diese Aspekte machen Hsin Tao zu einem wertvollen und sehr effizienten Werkzeug für die persönliche Transformation.